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Gespiegelte Seelen. Physiognomik in der Frühen Neuzeit.

Vergleiche wie „flink wie ein Wiesel“ oder „falsch wie eine Katze“ sind wohl jedem geläufig. Aus eigener Erfahrung können wir diese Eigenschaften an Tieren aber vermutlich nur äußerst selten bestätigen – wir haben sie einfach unreflektiert von früheren Generationen übernommen, um damit Menschen zu beschreiben. Ursprünglich beruhen solche Aussagen auf der vergleichenden Physiognomik.

Physiognomik? Klingt kompliziert, aber der Gedanke, der dahinter steht, ist eigentlich ganz einfach. Man geht in der Physiognomik davon aus, dass man aus der körperlichen Erscheinung eines Menschen etwas über seinen Charakter ableiten kann.


Die Ursprünge der Physiognomik lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen. Als älteste erhaltene Schrift gilt die Physiognomonica eines unbekannten Autors aus der Zeit etwa um 300 vor Christus. Sie bezieht sich aber bereits auf noch ältere Schriften.

Der Hauptansatz dieser Physiognomonica ist der Vergleich des Menschen mit dem Tier. Beispielsweise bemerkte man, dass die scheuen Hasen und Rehe ein weiches Fell. Also sollte diese Charaktereigenschaft auch auf andere Tiere mit weichem Fell übertragbar sein. Den rauhaarigen Löwen sah man hingegen als ein mutiges Tier. Der Schluss daraus war, dass auch andere Tiere mit derartigem Fell mutig seien – und zu denen zählte man auch den Menschen.


Die antiken Schriften zur Physiognomik wurden im Mittelalter zwar tradiert, Neues trat jedoch nur in Form christlicher Ausdeutungen hinzu. Einen Aufschwung erlebte die Thematik erst in der Renaissance wieder. In der Renaissance gewann die Selbst- und Naturerkenntnis gegenüber der Gotteserkenntnis an Bedeutung. Der Geist richtete sich auf die äußere Welt: Physikalische und chemische Naturgesetze wurden erkundet, fremde Länder entdeckt, ein Interesse für psychologische Fragen kam auf, naturnahe Menschendarstellungen wurden angestrebt.


In der Frühen Neuzeit stand die Physiognomik einerseits in engem Zusammenhang mit der Medizin und der Kunst, andererseits aber auch mit dem Okkulten und der Astrologie. Ein wichtiger Ausgangspunkt war unter anderem die antike Vier-Säfte-Lehre. Schon in diesem Zusammenhang wurden die Menschen in vier verschiedene Grundtypen eingeteilt: Choleriker, Sanguiniker, Phlegmatiker und Melancholiker. In der Kunst finden sich verschiedene physiognomische Studien, die darauf Bezug nehmen, beispielsweise bei da Vinci oder Dürer. Sie sind jedoch meist nicht charakterologisch gemeint.

Werke über die Physiognomik wurden in der Frühen Neuzeit vor allem in Italien gehäuft publiziert, der deutschsprachige Raum stand dem jedoch kaum nach. Im späten 15. Jahrhundert breitete sich dieses Phänomen zuerst auf Frankreich, auf den heutigen Benelux-Raum, in die Schweiz und nach Spanien aus. In England trat diese Entwicklung erst etwas verzögert zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein.


Einer, der sich im 16. Jahrhundert mit der Physiognomik auseinandersetzte, war der italienische Arzt und Philosoph Girolamo Cardano (1501–1576). Er beschäftigte sich daneben unter anderem mit der Astrologie und Traumdeutung. Träume enthielten seiner Meinung nach Zeichen, die auf eine Zukunft hindeuten konnten. Auch durch die Bewegung der Planeten meinte er auf Vergangenheit und Zukunft schließen zu können.

Daneben ging sein guter Ruf als Arzt und Medizintheoretiker weit über seine Heimat hinaus. Cardano rühmte sich damit, aus dem Aussehen und den Symptomen eines Patienten jederzeit dessen wahren Zustand und eine richtige Prognose ableiten zu können. Das ging so weit, dass er auch Wetten darüber abschloss, dass er die Todesursache eines kürzlich Verstorbenen dadurch feststellen könne.


Cardano war um 1550 der Erste, der die astrologische Stirnlesekunst, die Metoposkopie, betrieb. Seine Metoposcopia erschien als Handschrift und wurde erst 1658 gedruckt – das zeigt die lange Tradition dieser Schrift.

Bei der Metoposkopie geht es darum, aus den Stirnlinien auf die Charaktereigenschaften eines Menschen zu schließen. Sehr häufig wurden die Linien mit den Planeten in Verbindung gesetzt. Hierbei gibt es zwei verschiedene Ansätze: Einerseits konnte man die Tagplaneten (Sonne, Jupiter und Saturn) auf der rechten Stirnhälfte abbilden, die Nachtplaneten (Mond, Venus und Mars) auf der linken Hälfte, Merkur und Venus zentral dazwischen. Das zweite System, nach dem auch Girolamo Cardano arbeitete, geht vom Sphärenmodell aus und teilt die Planeten somit von der Nasenwurzel bis zum Haaransatz übereinander ein. Sonne und Mond befinden sich über den Augenbrauen. Daneben gibt es auch Ansätze, die beide Systeme miteinander in Einklang bringen wollen.

Analog zur Handlesekunst finden auch bei der Stirnliniendeutung die Stärke und Farbe der Linien Beachtung, ebenso wie ihre Krümmung, mögliche Unterbrechungen und andere Male wie Leberflecken oder Warzen.



„Es vertheilen sich aber alle diese Strich längst der Stirn überzwerg [=quer] hin, ausgenommen die einige Linie, welche geradezu durch die Glabellam oder das Räumlein zwischen den Augbraunen durchstreichet und dem Mercurio zugeordnet wird. Von den andern überzwergs hinlauffenden Linien sind einige lang, einige kurtz. Die Öberste von den langen ist denen äusserten Haubt-Haaren am nächsten und ist unter des Saturni Gebiet. Die nächst darauf folgende erkennt die Herrschaft Jovis. Die Dritte beherrscht der Mars, die Vierdte steht der Veneri zu; der Kurtzen werden zwey gezehlet so nicht untereinander sondern gleich gegeneinander liegen, welche wie wohl sehr selten in eine lange Linie verwachsen. Dieso der Sonnen zuständig bey den Rechten, des Monds aber bey den lincken Aug.“

- Aus: Höchst förtröffl. chiromantisch- und physiognomisches Kleeblatt. Nürnberg 1695. Enthält u. a. einen Auszug der Metoposcopia im 3. Tractat: "Des zu seiner Zeit höchstberühmtesten Herrn Johann Sigmund Elßholtzens Ph. & Med. D. und Churfürstlichen Brandenburgischen Architari Meß-Kunst des Menschlichen Cörpers ... Deme auch eingerückt Cardani des Welt-bekanndten Natur-Erkundigers geheim-gehaltene Metoposcopia... Nürnberg, bei Johann Ziegern, 1695. Seiten: 158 ff. und 173 f.



Ein weiterer Gelehrter, der sich im 16. Jahrhundert mit der Physiognomik befasste, war Giambattista Della Porta (1535–1615). Er war ebenfalls Arzt, stammte aus Neapel und wurde besonders für einige wichtige physikalische Beobachtungen bekannt, beispielsweise entdeckte er die Wärmewirkung von Lichtstrahlen. Er behandelte unzählige naturwissenschaftliche Themen und war außerdem einer der Ersten, der in seiner Magia naturalis über Spiegelprojektionen schrieb. In diesem Werk überlieferte er übrigens auch eines der wenigen erhaltenen Rezepte für Hexensalbe.

Giambattista Della Porta befasste sich mehrfach mit den Analogien zwischen verschiedenen Geschöpfen. 1588 erschien seine Phytognomonica, in der er sich mit den Ähnlichkeiten zwischen Menschen, Tieren, Pflanzen und Metallen beschäftigte und daraus Charakterisierungen entwickelte. Dieses Werk ist mit zahlreichen Bildtafeln versehen, die auch heute noch relativ bekannt sind, auch wenn Della Portas Name nur noch wenig geläufig ist.


In seiner 1601 erschienenen Coelestis Physiognomoniae bezog Della Porta auch die Planeten in seine Betrachtungen mit ein. Er glaubte nicht daran, dass die Menschen von den Planeten abhängig seien und man durch sie das Schicksal deuten könne. Ebenso wenig ging er davon aus, dass man die Zukunft eines Menschen aus seiner äußeren Körperbeschaffenheit und seinen Gesichtszügen lesen zu könne. Auch die Chiromantie hielt er in dieser Hinsicht für ungeeignet, sehr wohl glaubte er aber, dass man aus der Form der Hand auf den Charakter schließen könne, wie sich in seinem 1677 postum erschienenen Buch Della Chirofisionomia zeigt.


Für die Physiognomik besonders bedeutend ist Della Portas Schrift De Humana Physiognomonia. Das Buch erschien erstmals 1586 und wurde zum regelrechten Bestseller. Übersetzungen in das Italienische, Französische und Deutsche folgten und die Physiognomonia wurde in 13 Auflagen in vielen Ländern Europas bis in das 17. Jahrhundert hinein herausgebracht. Das spricht deutlich für den Erfolg und die weite Verbreitung des Werkes. Della Porta reiht sich damit ein in eine ganze Gruppe von Autoren, die ebenfalls auf diese Vergleiche Bezug nehmen.


Della Porta stellt in der Physiognomonia in einer kritischen Sammlung im Grunde das gesamte physiognomische Wissen seiner Zeit zusammen und zitiert zahlreiche Autoritäten seit der Antike (beispielsweise Adamantios, Polemon, Galen, Albertus Magnus und Rhazes). Diese Zitate ordnet er in einer systematischen Kompilation, was das Werk von anderen seiner Zeit unterscheidet. Ansonsten sind eher ungeordnete Sammlungen zu dieser Thematik üblich. Nur stellenweise bringt Della Porta auch seine eigene Meinung ein, vor allem dort, wo er Widersprüche in den Quellen findet, die er auf eine „verdorbene Textgestalt“ oder Missverständnisse zurückführt.

Della Porta geht von der Annahme aus, dass jede Tierspezies über Eigenschaften verfügt, die ihrer Gestalt entsprechen. Wenn es beim Menschen Ähnlichkeiten im Äußeren gibt, setzen diese Ähnlichkeiten sich auch im Charakter fort.


Besonders bekannt wurde die Physiognomonia wegen ihrer Holzschnitte, die von einem unbekannten Künstler stammen. Della Porta nutzte sie, um seine moralischen Argumente bildlich zu untermauern. Menschen- und Tierköpfe wurden deutlich überzeichnet und meist der Mensch dem Tier angeglichen.

Beispielsweise wählte Della Porta als Einstieg in das Kapitel über die Stirn den Vergleich des Menschen mit dem Rind, dessen große Stirn auf Faulheit und Furchtsamkeit hindeute. Man sieht hier deutlich, dass der gesamte Ausdruck angeglichen wurde und nicht nur die Stirn.



„In seiner Physiognomy aber spricht er / Aristoteles, ferner also: Welche eine gewaltige grosse Stirn haben / die sind gemeiniglich / faul oder traeg und forchtsam / wie die Ochsen zu sein pflegen. Polemon: die grosse Stirn zeiget mehrertheils ein faul unnd traeg Gemuet an. Adamantius setzt fuer daß Woertlein magna oder Groß / plana, daß ist / eben oder flach: Jedoch beduenckt mich / es sey sein des Adamantii Text / dieweil er mit des Aristotelis, unnd der andern nicht ubereinstimmet / falsch und corrumpiert.“

- Aus: Della Porta, Giambattista: Menschliche Physiognomy, daß ist, Ein gewisse Weiß vnd Regel, wie man auß der eusserlichen Gestalt, Statur, vnnd Form deß Menschlichen Leibs, vnd dessen Gliedmassen ... schliessen könne, wie derselbige auch innerlich ... geartet sey ; Jn vier vnterschiedene Bücher abgetheilet ..., Franckfurt am Mayn, 1601.



Das Ausmaß der Gestaltanwandlung ist unterschiedlich, beispielsweise wird die Analogie beim Hahn nur über Nase und Schnabel dargestellt, beim Pferd über die ganze Statur.



Die Mensch-Tier-Vergleiche erlebten mit Giambattista Della Porta einen neuen Aufschwung und wirkten fort bis in das 18. und 19. Jahrhundert: Johann Caspar Lavater (1741–1801) versuchte, Charaktereigenschaften an der Stirn abzumessen, Franz Joseph Gall (1758–1828) war der Meinung, dass der Charakter eines Neugeborenen durch Abtasten des Schädels festzustellen sei und Carl Gustav Carus (1789–1869) meinte als Anhänger eines ganzheitlichen Denkens, dass sich das Wesen eines Menschen symbolhaft in seinem Äußeren zeigt.

Von diesen Gedanken ist es kein großer Sprung mehr hin zu Kriminologen wie Cesare Lombroso (1835–1909), der meinte, dass Verbrecher an ihrem äußeren Erscheinungsbild zu erkennen seien und sich dabei auf Elemente aus der Physiognomik bezog. Lombroso wiederum diente im Nationalsozialismus als Vorlage für rassenbiologische Theorien.

Gerade ab dem späten 18. Jahrhundert stellt sich diese Thematik recht komplex dar, deshalb wird sie hier nur in diesem kurzen Ausblick angerissen und möglicherweise in Zukunft in einem weiteren Artikel noch ausführlicher behandelt.


 

Literaturtipps:

"Kunst und Physiognomik. Menschendeutung und Menschendarstellung im Abendland" von Norbert Borrmann, 1994.

"Windows of the Soul. Physiognomy in European Culture 1470-1780" von Martin Porter, 2005.


Web-Tipp:

Giambattista Della Portas Menschliche Physiognomy, die deutsche Übersetzung der De Humana Physiognomonia, wird von VD17 zur Verfügung gestellt.

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